Digitale Medienbildung

14. Juli 2023

KI: Die Regelung der EU und die Schweiz

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Mein Beitrag bei Infosperber appelliert an die Schweiz, sich aktiv um eine Digitalisierungspolitik zu kümmern – gerade in den sensiblen Bereichen von Überwachung und Kontrolle.

Regulierung der KI notwendig

Am Mittwoch 14. Juni 2023 beschloss das Europäische Parlament die Grundlagen zu einer KI-Verordnung über künstliche Intelligenz (KI). Die Abstimmung war eindeutig: 499 zu 28 Stimmen bei 93 Enthaltungen. Die EU-Strategie verfolgt einen risikobasierten Ansatz und will die Nutzung umso stärker regulieren und einschränken, je grösser das Risiko einer KI-Anwendung ist. 

Wo das Anwenden künstlicher Intelligenz Menschen zu unterdrücken droht, gilt ein totales Verbot solcher Anwendungen. Dazu gehören:

  • «Social Scoring»-Systeme, die das individuelle Verhalten bewerten. Abschreckend wirkt die Überwachungspolitik in China, wo auf einer datengestütztes Basis Einzelpersonen, Staatsbedienstete, Unternehmen, Organisationen und Verbände eingestuft und bewertet werden können. Schlechtes Verhalten wird diszipliniert und bestraft – etwa mit gedrosselten Internetgeschwindigkeiten oder mit Flugverboten.
  • Biometrische Erkennungssysteme, die öffentlich zugängliche Räume in Echtzeit überwachen – ausser, wenn Strafverfolgungsbehörden die richterliche Genehmigung erhalten, um schwere Straftaten zu verfolgen.
  • Biometrische Kategorisierungssysteme, die sensible Merkmale wie Geschlecht, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Religion, politische Orientierung verwenden und dabei diskriminierende Auswirkungen haben können. 

Insgesamt will die EU-Verordnung verhindern, dass Menschenrechte und das Rechts auf Privatsphäre verletzt werden. Anbieter von KI-Modellen sollen einen soliden Schutz der Grundrechte, der Gesundheit und Sicherheit sowie der Umwelt, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit gewährleisten. Auch KI-Systeme wie «ChatGPT» müssen offenlegen, dass ihre Inhalte KI-generiert sind, um Transparenzanforderungen zu erfüllen.  

Einigkeit tönt anders

Die Ziele des europäischen Parlaments sind hochgesteckt. Aber der Chor der Stimmen, die sich in Europa nun einigen müssen, ist vielstimmig und dissonant. Vor dem Beschluss des EU-Parlaments hatte die europäische Volkspartei EVP – ein Zusammenschluss konservativer Parteien – versucht, den Terrorismus stärker zu berücksichtigen. Bayerns Digitalministerin Judith Gerlach kritisierte: «Der aktuelle Gesetzentwurf bremst Innovationen und schädigt insbesondere unsere bayerische Wirtschaft, für die KI eine Schlüsseltechnologie ist.» Die bisherigen  Vorschläge müssten dringend überarbeitet werden. Gerade kleinere Unternehmen könnten das Übermass an Regulierung und Bürokratie nicht stemmen. Ähnlich befürchtete der Handelsverband Deutschland (HDE) eine Überregulierung. Man brauche zwar Regeln, dürfe aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

In der Parlamentsdebatte nannte Axel Voss von der CDU das vorgesehene Verbot der Gesichtserkennung in Echtzeit im öffentlichen Raum bedauerlich und eine verpasste Chance: KI könne, richtig angewandt, zu deutlich mehr Sicherheit in der Bevölkerung führen. Die FDP-Digitalpolitikerin Svenja Hahn aus dem liberalen Lager hielt dem entgegen, dass Gesichtserkennung zur Überwachung in einer liberalen Demokratie nichts zu suchen habe.

Die trotz einem Kompromiss letztlich nicht ausgeräumten Gegensätze belegen, dass am 14. Juni höchstens ein Meilenstein in der Debatte erreicht wurde. Endgültig entscheiden werden die Ländervertreter im EU-Ministerrat. Der französische Premier Emmanuel Macron kündigte in einer Rede vor Wirtschaftsvertretern umgehend an, dass Frankreich zur Entwicklung der KI neue Mittel von sieben Milliarden Euro bereitstelle. Damit solle die Dominanz Chinas und der USA verhindert werden. Denn die Angst ist gross, dass die KI-Entwicklung dank strenger Regulierungen einen Bogen um die europäischen Länder machen könnte. So startet Google in diesen Tagen seinen Chatbot «Bard» in den meisten Ländern der Welt. Aufgrund von Datenschutzbedenken fehlte erst die EU. Im letzten Moment gelang es dann, einen reichlich vagen Kompromiss zu finden.

Umstritten bleibt der Einsatz von KI in der Migrationspolitik. NGOs machen darauf aufmerksam, dass KI von autonomen Drohnen bis hin zur Spracherkennungssoftware angewendet werde, um Grenzen gegen illegale Übertritte zu sichern oder falsche Aussagen im Asylprozess zu entdecken. European Digital Rights (EDRi), ein Zusammenschluss zahlreicher europäischer NGOs, kritisiert, dass die KI-Verordnung die Rechte der Menschen, insbesondere der Migranten nicht verbessere. Das Europäische Parlament habe es versäumt, Bestimmungen einzuführen, welche die Rechte von Migrantinnen und Migranten angesichts einer immer stärkeren diskriminierenden Überwachung schützen.

Die Schweiz als Beobachterin am Spielfeldrand

Während die EU mit Regulierungen weltweit vorprescht, geht die Schweiz wie häufig bei europapolitischen Fragen gemächlich voran und beobachtet die Situation vom Spielfeldrand. In einer Medienmitteilung befand der Bundesrat am 18. April 2023, dass die Schweiz in vielen Bereichen von der Regulierung der Europäischen Union (EU) betroffen sei. Aber einen unmittelbaren Handlungsdruck sehe er nicht. 

Man erwarte keine erheblichen Marktzugangshürden für die Schweiz im digitalen Bereich. Dies auch, weil die neuen verbindlichen Regelungen generell für alle Anbieter und nicht nur für Anbieter aus Drittstaaten wie der Schweiz gelten.

Das Fazit lautet: Die Schweiz werde sich den Einflüssen von aussen nicht entziehen können. Schweizerische digitale Produkte werden den EU-Konventionen entsprechen müssen, wenn sie in der EU verkauft werden. Aber man hoffe, bestehende Gesetze einfach anpassen zu können. 

Doch Laisser-Faire ist in der Politik keine gute Lösung. Die Schweiz wird nachvollziehen müssen, was ihr in Gesetzen wie der EU-Konvention vorgesetzt wird. Auch kann die Schweiz kaum Entwicklungen zulassen und fördern, die ausserhalb der Schweiz als brandgefährliche Risiken gelten. 

Nachdem sich in der EU die Konturen einer europäischen Digitalisierungspolitik abzeichnen, sollte sich die Schweizer Politik beeilen, eigene Anforderungen für diese Herausforderungen zu formulieren, welche die Menschenrechte schützen und eine flächendeckende Überwachung verhindern.

aus: http://www.infosperber.ch

15. Juni 2023

Künstliche Intelligenz – faszinierend und beängstigend

Filed under: Uncategorized — heinzmoser @ 09:02
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Dieser zusammenfassende Beitrag zu KI auf dem gegenwärtigen Stand findet sich in der Zeitschrift „infosperber“: https://www.infosperber.ch/gesellschaft/technik/kuenstliche-intelligenz-faszinierend-und-beaengstigend

Heinz Moser /   KI verändert unser Leben, vom gefakten Bild in der Presse bis zu den Spielregeln politischer Auseinandersetzungen

Seit Microsoft am 7. Februar dieses Jahres Chat GPT präsentierte, ist nichts mehr wie vorher. Fast täglich berichten Zeitungen und soziale Medien über neue Einsatzmöglichkeiten der Künstlichen Intelligenz (KI). Entstanden ist ein Cocktail von Faszination, gemischt mit diffusen Ängsten. Ein mit einer gefakten Daunenjacke bekleideter Papst ist ein skurriles Beispiel, das erst einmal ein Schmunzeln hervorruft. Beim fast gleichzeitig in sozialen Medien veröffentlichte Bild eines Papstes, der vor Polizisten flieht, bleibt das Lachen im Hals stecken.  Und der welsche Radiosender, der das Wetter von einer künstlich generierten Person verlesen liess, verbindet die Faszination über die technischen Möglichkeiten mit der Frage, ob in Zukunft Nachrichtensprecher und Journalisten auf dem Arbeitsmarkt zugunsten künstlicher Bots wegfallen könnten.

Gefakte Bilder und künstlich erzeugte Bücher

Bei der Colorado State Fair gewann Jason Allen 300 Dollar für sein Bild «Théâtre D’opéra Spatial» – obwohl nicht er es gemalt hatte, sondern dazu die KI «Midjourney» eingesetzt hatte. Seither wird heiss diskutiert, wie weit es noch menschlicher Kreativität bedarf, wenn Kunst durch künstliche Intelligenz geschaffen werden kann.

Nicht zu vergessen ist, dass auf Amazon bereits Bücher verkauft werden, die mit Hilfe von Chat GPT verfasst wurden – etwa Kinderbücher wie «Mia, Finn und der kleine Roboter Ki» von Ivana Leiseder. Es ist das erste deutschsprachige Bilderbuch über künstliche Intelligenz, das von Schweizer Autoren und Autorinnen gemeinsam mit Kindern und Chat GPT entwickelt wurde (so die Beschreibung auf «Amazon»). Im Internet wird das Buch mit gut bewertet.

Zu den Büchern, die mit dem Einsatz von Chat GPT geschrieben wurden, gehört auch das Werk von Brett Schickler, einem Verkäufer aus Rochester. Sein Traum war es immer schon gewesen, einmal ein eigenes Buch zu schreiben. Mithilfe der KI-Software erstellte er in wenigen Stunden ein 30-seitiges, illustriertes E-Book für Kinder. Die Geschichte, wie das weise kleine Eichhörnchen sparen und investieren lernt (The Wise Little Squirrel: A Tale of Saving and Investing). Oder ein weiteres Beispiel: «Chat GPT – Ein Buch von mir. Über mich: Ein Buch. Erstellt mit der Künstlichen Intelligenz Chat GPT» von Niklas Schügerl.

Alle diese Titel werden über Amazon vertrieben. Nach Reuters gab es im Kindle-Shop von Amazon schon im Februar 2023 über 200 E-Books, in denen Chat GPT als Autor oder Co-Autor aufgeführt war – mit der Tendenz stark steigend. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir auch Thriller «made by KI» lesen können.

Die Datafizierung der Gesellschaft

Im Zentrum der Entwicklungen um KI steht die wachsende Bedeutung digitaler Daten für die Gesellschaft. Denn überall werden Daten abgegriffen, welche als riesige Datenbasis für die Algorithmen der Chatbots dienen – um zum Beispiel daraus ein neues Buch zusammenzusetzen. Überall wo uns abverlangt wird, online ein Profil zu erstellen, wird nach dem «digitalen Gold» geschürft. Im Supermarkt wagen es viele Leute schon fast nicht mehr, ohne Karte zu bezahlen, wenn an der Kasse ultimativ nach «Cumulus» verlangt wird und damit alle unsere Einkäufe zentral erfasst werden können.

Dabei hat die Datafizierung schleichend begonnen und sich verstärkt, je häufiger digitale Daten aufgezeichnet wurden. Ein Treiber dazu waren die Handys und PCs. Im Alltag nutzen Unternehmen diese Technologie, um Beratung und Kundenkontakte zu ersetzen, insbesondere in Situationen, in denen das Sprachvokabular und die damit verbundenen Aufgaben klar umrissen und überschaubar sind. So ist es in Online-Shops üblich geworden, sich beim Einkaufen durch Bots assistieren zu lassen. Obwohl dies das tägliche Leben erleichtern soll, gibt es auch eine Kehrseite der Medaille: Je häufiger bei Verwaltungsvorgängen oder beim Bezahlen ein digitaler Zugriff erfolgt, desto umfassender werden engmaschige Kontrollsysteme. Fichen oder die Stasi-Akten in der DDR waren primitive Vorläufer der heute möglichen Überwachung. Während damals Informationen mühsam von Hand gesammelt und protokolliert wurden, sind heute Millionen Daten per Mausklick zugänglich. Google weiss zum Beispiel über den Standortverlauf, wo man sich im letzten Jahr aufhielt und welche Orte man besuchte. Für diese Informationen braucht es nur das Handy und keine «echten» Menschen mehr, die uns hinterher spionieren.  

Zwar verhindert der Datenschutz das Schlimmste. Wie klein jedoch der Schritt zur Manipulation sein kann, wurde erstmals bei der US-Präsidentenwahl von 2016 bewusst. Vor allem von der Seite Donald Trumps wurden Social Bots eingesetzt. Diese Computerprogramme agierten wie richtige Menschen und nutzen die Informationen aus dem Netz, um massgeschneiderte Propaganda an die Wählerinnen und Wähler zu bringen. Fast jeder dritte Tweet, der auf Twitter Donald Trump unterstützte, war von einem solchen Bot erzeugt.

Die Verunsicherung durch Chat GPT

Diese Vorgeschichte ist wichtig, um den Hype zu verstehen, der dieses Jahr um Chat GPT entstanden ist. Als Chat GPT vorgestellt wurde, ist vielen erst richtig bewusst geworden, wie rasant sich KI-Modelle in den letzten Jahren entwickelt haben. Wenn man mit künstlichen Intelligenzen ganz natürlich kommunizieren kann, dann kommen alle Ängste hoch, die man mit Science-Fiction und der Bedrohung durch Cyborgs verbindet. So befürchten wir, von einer Technologie bedroht zu werden, die wir nicht kontrollieren können und nicht im Griff haben.

Dahinter steht eine grundlegende Vertrauenskrise: Wie kann man seinen Augen noch trauen, wenn unser Wissen und unsere Argumente auf Informationen beruhen, die uns von KI-Modellen in den Mund gelegt werden? Zu einem Interview-Auftritt von Robert Habeck schrieb das Social-Media-Team des deutschen Bundeswirtschaftsministers erst kürzlich, es handle sich um ein «Deepfake». Das Material sei so geschickt manipuliert worden, dass es auf den ersten Blick echt wirke. Die Aussagen im Interview seien aber nicht so gefallen. Und am Schluss folgt der Appell, solche Fakes nicht weiterzuverbreiten.

Was man gegen eine «gefakte Realität» tun kann

Die Appelle, nicht auf Fakes hereinzufallen, wirken ihrerseits hilflos. Auch die alten journalistischen Regeln, wie man Texte und Bilder medienkritisch hinterfragen kann, helfen nicht weiter. So war es zu Zeiten eines klassischen Journalismus sicher richtig, dass Informationen auf wenigstens zwei unterschiedlichen Quellen beruhen sollten. Doch die gigantische Datenflut, die jeden Tag erzeugt wird, macht es heute oft unmöglich, die Unabhängigkeit von Quellen zu belegen. Auch wer mehrere unabhängige Quellen findet, weiss nicht, ob im Hintergrund nicht dennoch ein Netzwerk von gleichgerichteten Chatbots steht, oder ob man auf das Netzwerk eines Narrativs gestossen ist, dessen Meinungen sich gegenseitig verstärken.

Zudem: wer hat überhaupt Zeit, die Informationen aus Zeitungen, dem Internet und dem Fernsehen gleich noch mit ausführlichen Recherchen über die Glaubwürdigkeit von Inhalten zu verbinden. Deshalb ist medienkritisches Expertenwissen wichtig geworden, welches die Einordnung von Informationen unterstützt und Fake-Nachrichten entdeckt. Medienkonsumenten und -konsumentinnen können sich zum Beispiel informieren bei:

– Plattformen wie Google «Fact Check», «Correctiv», «Fullfact» aus Grossbritannien oder «Volksverpetzer» mit eigener App, wo Informationen auf ihre Richtigkeit untersucht und die Resultate online veröffentlicht werden.

– Googles Bildersuche, wo man über die Rückwärtssuche eines Bildes den Kontext abfragen kann, in welchem ein Bild schon einmal erschienen ist. Auf diese Weise kann man grobe Manipulationen auch als Konsument oder Konsumentin erkennen.

– den Angeboten zu Faktenchecks, welche Medienanbieter selbst auf die Beine gestellt haben. So bietet die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRF) ebenso eine Plattform für Faktencheck wie die englische BBC mit ihrer Seite zum Reality Check. Und auch grosse Zeitungen wie der Tages-Anzeiger unterhalten eigene Faktencheck-Teams. Seit 2019 besteht zudem die Trusted News Initiative (TNI) ein globales Netzwerk von Nachrichtenorganisationen und sozialen Medienplattformen, der auch SRF angehört.

Nur kann man leider auch auf Faktenchecks nicht blind vertrauen, wie Infosperber immer wieder nachgewiesen hat. Wenn Fernsehsender zum Beispiel in ihren Talkshows ankündigen, dass die dort verbreiteten Meldungen noch über Faktenchecks geprüft würden, so kann das auch bedeuten, dass fragwürdige Narrative weiter gestützt und nicht hinterfragt werden. Problematisch ist vor allem, dass fast alle «Faktencheck»-Organisationen mit mächtigen staats- und konzernnahen Interessengruppen verbandelt sind.  So stellt sich gemäss Infosperber auch bei der weltweit operierenden Trusted News Initiative (TNI) die Frage nach transparenten Leitlinien, welche Fake News zu klassifizieren ermöglichte. Die Website «Volksverpetzer» hält denn auch mit Blick auf die grossen Konzerne fest: «Lass nicht Tech-Milliardäre und deren Algorithmen entscheiden, ob du Faktenchecks siehst!»

Die Veränderung der Arbeitswelt durch KI

Das Unbehagen, welches um die künstliche Intelligenz entstanden ist, beschränkt sich nicht auf die Verbreitung von Fake News und die Frage, ob die menschliche Intelligenz bald durch KI überholt wird. Besonders beunruhigend sind die Unsicherheiten über die Zukunft des Arbeitsmarktes. So prognostizierte der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil kürzlich in einem Interview mit dem Tagesspiegel eine tiefgreifende Veränderung der Arbeitsmärkte. Dies betreffe weniger die klassischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die hauptsächlich physische Arbeit verrichten, sondern den heutigen Mittelstand, also überwiegend Menschen, die Schlips und Kragen tragen – etwa in den Bereichen Handel, Banken und Versicherung. Heil dazu: «Hier wird es irgendwann tatsächlich um berufliche Neuorientierung gehen. Deswegen setzen wir jetzt schon stark auf Weiterbildung und Qualifizierung». Er sieht aber auch Bereiche, wo die Nachfrage nach menschlicher Arbeit nicht weniger werde, sondern dramatisch wachse – etwa im Bereich Gesundheit, Bildung, Pflege, also in allen sozialen Dienstleistungen.

Die Meinungen über die Auswirkungen der KI auf die Arbeitswelt sind geteilt: Einige KI-Entwicklerinnen und Entwickler sind überzeugt, dass die neuen KI-Tools zu bedeutenden Fortschritten in Bereichen wie der Arzneimittelforschung, der Verwaltung oder der Bildung führen können. Andere befürchten, dass es in den Mittelschichten eine große Anzahl von Verliererinnen und Verlierern geben könnte. Die aktuelle Verunsicherung belegt eine internationale Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG), über die das deutsche «Handelsblatt» berichtet. Danach glauben weltweit 36 Prozent der Befragten, dass KI ihren Arbeitsplatz irgendwann überflüssig machen könnte.

Paul Hinton, laut New York Times einer der Pioniere der KI, teilt zwar die Meinung, dass Chatbots wie Chat GPT Routineaufgaben erledigen können und damit die tägliche Plackerei überflüssig machen. Aber er befürchtet gleichzeitig, dass zukünftige Versionen der Technologie eine Bedrohung für die Menschheit darstellen könnten. Der Wettlauf zwischen Google, Microsoft und anderen pervertiere zu einem globalen Wettlauf, der ohne globale Regulierungen nicht aufhören werde.

Mehr als 1000 Experten, Unternehmer und Wissenschaftler haben kürzlich in einem Brief gefordert, dass «alle KI-Labore sofort das Training von KI-Systemen, die leistungsstärker als GPT-4 sind, für sechs Monate unterbrechen». Doch ist auch diese Erklärung mit der KI-Industrie verbandelt. Sie wurde vom «Future of Life Institute» initiiert, einer von Elon Musk und anderen 2014 gegründeten US-Stiftung. Wenn sich die Vorreiter der KI-Industrie hinter dieser Initiative versammeln, könnte es leicht sein, dass diese auch deshalb ein Moratorium fordern, um zu verhindern, dass neue Konkurrenten die Möglichkeit erhalten, sich in diesen neuen Märkten breit zu machen.

KI im gesellschaftlichen Wandel

Die Gefahren der Entwicklung der künstlichen Intelligenz abzuschätzen, ist ein Weg zwischen Skylla und Charybdis. Auf der einen Seite geht es darum, den gläsernen Menschen zu verhindern, welcher der Macht und der Kontrolle dieser neuen Technologie unterliegt. Wie weit kann man demokratischen Prinzipien wie dem Überzeugen durch Argumente noch trauen, wenn diese sich auf Behauptungen stützen, die möglicherweise mit KI fabriziert wurden? Gleichzeitig kann man sich von einem gesellschaftlichen Wandel nicht abkoppeln, der bereits im vollen Gang ist.

Zur Eingrenzung der KI strebt die EU bereits heute Regulierungen an – etwa eine Verordnung der EU-Kommission für die Entwicklung, Vermarktung und Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI) in Europa. Hochrisiko-Anwendungen sollen EU-weit kontrolliert werden: So soll es für Gesichtserkennungssysteme, medizinische Diagnose- und Entscheidungsunterstützungssysteme und autonomes Fahren spezielle Regeln zur Nutzung geben.

In der Schweiz gibt es aber auch grosse Vorbehalte gegenüber Regulierungen. Der Wirtschaftsverband Swico, der die Interessen von Firmen der ICT- und Online-Branche vertritt, ist skeptisch. Angesichts der «Hilflosigkeit der staatlichen Akteure» appelliert Swico an die Eigenverantwortung der Digitalindustrie. Und SVP-Nationalrat Franz Grüter findet: «Zu viel Regulierung bei KI bremst die Innovation».  Doch die Politik muss eine Balance zwischen ungehemmter Innovation und einem übertriebenen Regulierungswahn finden.

20. März 2023

Kinder müssen eine politische Stimme haben

Filed under: Medienpädagogik — heinzmoser @ 09:38

Diese Beitrag für infosperber kommentiert einen Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung zum Thema von Kinderexpert/innen und schlägt eine Brücke zur politischen Bildung

Laut Lucien Scherrer, Redaktor bei der «NZZ», gebärden sich heute viele Journalisten als Anwälte und Sprachrohre der Kinder: «Sie lassen Schüler und Kindergärtlern erklären, was die Politik zu tun hat, zitieren Aussagen von Siebenjährigen, als wären es Orakelsprüche.» Die Zeitung sieht darin eine Manipulation von vornehmlich linksgrüne Journalistinnen und Journalisten:  Medien zitieren Kinder als politische Subjekte, die mitbestimmen sollen – aber nur da, wo es in den Kram der Journalisten passe. Ob es vornehmlich linksgrüne Politik ist, die sich so verhält, kann man bezweifeln. Aber ungerechtfertigt ist die Kritik an den Medien nicht.

So wird als Beispiel aus einem Bericht des Westdeutschen Rundfunks der siebenjährige Leon zitiert: «Meistens fahren die Autos richtig schnell, und ich finde, dass man eher laufen soll als fahren, weil die Autos dann Umweltverschmutzer sind.»

Wie Kinder im Berliner «Tagesspiegel» Probleme lösen

Anstoss erregt beim NZZ-Autor auch eine Serie des Berliner «Tagesspiegels», in der Kinder «Berlins Probleme» lösen – und da sträuben sich die Nackenhaare zu Recht.  So antworten Kinder zum Beispiel In Folge 33 vom 14.3.2022 auf die Frage: «Wie verhindert man einen Krieg wie den in der Ukraine?» Die Redaktion fand folgende Vorschläge «innovativ»:

Mio, 5 Jahre alt: Welchen Krieg meinst du, den von Putin? Praktisch wäre, wenn es einen Typ mit Superkraft geben würde, der dafür sorgt, dass alle Menschen sich lieb haben.

Bruno, 5 Jahre alt: Immer wenn Leute vorschlagen, Kriege zu machen, einfach der Polizei Bescheid sagen und die kommt dann und sorgt für Ordnung.

Rike, 4 Jahre alt: Putin einsperren!

Und am 19.4. 2022 wollte der «Tagespiegel» wissen, wo man bei steigenden Lebensmittelpreisen und Heizkosten sparen kann:

Antonia, 8 Jahre alt: Auf mehr verzichten, zum Beispiel auf Süssigkeiten. Dann ist mehr Geld übrig und die Zähne werden nicht schlecht

Johan, 6 Jahre alt: Ich kann auf Gemüse verzichten!

Die Rezepte der befragten Kinder sind wie überall in der ganzen Serie simpel gestrickt. «Jöö» und «schnusig» muten solche Vorschläge an. So sind sie eben, unsere Kleinen. Zwar geht der NZZ-Redaktor zu weit, wenn er unterstellt, damit verpasse man ihnen eine Vorliebe für «grün-sozialistische Rezepte». Schliesslich passen Beispiele wie Johans Gemüseverzicht kaum zu dieser politischen Einordnung. Aber natürlich hat er Recht, dass man kleine Kinder nicht ernst nimmt, wenn man als «Expertenmeinungen» in die Zeitung stellt, was kleine Kinder so daher plappern.

Das Kindchenschema wertet ab

Bei der «Tagesspiegel»-Serie fällt zudem auf, dass Kinderaussagen immer wieder mit Fotos bebildert werden, die dem sogenannten Kindchenschema entsprechen. Nach dem Dorsch – Lexikon der Psychologie geht es dabei um die rundlichen kindlichen Körper- und Gesichtsproportionen, die als Schlüsselreiz gedeutet werden und Kümmerungs- und Fürsorgeverhalten auslösen. Süss und niedlich sind die Kleinen mit ihren Aussagen, wird damit suggeriert.

Das Kindchenschema für den politischen Nachwuchs, den man damit nicht mehr ernst nehmen muss, fällt auch bei Fotos von Greta Thunberg und ihrem Klimaprotest auf. Das gilt nicht allein für die Bilder, sondern auch für manche Texte. So kommentierte die «Zeit» einen Auftritts Thunbergs in Berlin, nicht die Anhänger der neuen Jugendbewegung «Friday for Future» würden da am lautesten applaudieren, «sondern deren Mütter und Väter an der Seitenlinie oder zu Hause an den Bildschirmen.» Laut «Zeit» sind es die Eltern, die sich mit dem Engagement der Kinder schmücken und voll Ergriffenheit twittern, wie sich das Familienleben von heute auf morgen verändert habe.

Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen muss verstärkt werden

Allerdings ist das Narrativ, dass man Kinder und Jugendliche zu politischen Fragen nicht ernst nehmen kann, ebenfalls zu einfach gestrickt. Schliesslich sind es die heute Heranwachsenden, die Krisen wie den Klimawandel ausbaden werden. Deshalb ist die Stimme von Jugendlichen und Kindern wichtig. Sie müssten bei der Meinungsbildung und der Äusserung ihrer Anliegen unterstützt und nicht heruntergemacht werden.

Förderung von Engagement und Partizipation der heranwachsenden Generation ist dabei weit mehr als die Produktion journalistisch verwertbarer Statements. Eine Medienarbeit, welche politische Bildung auf sinnvolle Weise unterstützt, muss Kinder und Jugendliche auf Augenhöhe ansprechen und sie bei der Einordnung von Nachrichten und Informationen zu politischen Ereignissen nicht allein lassen. Beispiele dafür sind Kindernachrichtendienste wie «logo!» des ZDF oder Suchmaschinen wie «Blinde Kuh».

Auch die Schweiz sendet mit den «SRF Kids News» Nachrichten aus der Schweiz und der ganzen Welt, die für Kinder verständlich erklärt sind. Jede Woche gibt es ein neues Video auf dem YouTube-Kanal «SRF Kids News» und auf Play SRF, damit Kinder Ereignisse, von denen sie im Alltag hören, besser einordnen können.

Die Kids kommen dabei regelmässig auch selbst zu Wort. Wenn sie zum Beispiel in Beiträgen zum internationalen Frauentrag vom 8. März 2023 einbezogen werden, dann geht es um ernsthafte Diskussionen, welche an die eigene Generation gerichtet sind und das Engagement der Beteiligten dokumentieren. Es wird deutlich, dass Kinder aus ihrer Perspektive kritisch, aber manchmal auch zu Recht verständnislos reagieren. So kommen ihnen Einspieler aus Diskussionen um die Einführung des Frauenstimmrechts von 1971 wie Stimmen von einem anderen Stern vor. Die Erwachsenen waren eben damals mit ihren Stammtischmeinungen nicht schlauer als die heutigen Kinder und Jugendlichen.

12. Februar 2023

Chat-GPT verunsichert Schule und Gesellschaft

Filed under: Uncategorized — heinzmoser @ 12:44

Mein Artikel zu diesem Thema, der in der Online Zeitschrift „Infosperber“ am 10.2.2023 erschienen ist, wird hier nochmals abgedruckt. Er ordnet die Entwicklung der kündtlichen Intelligenz eine und verweiset auf Möglichkeiten und Gefahren dieser Technologie

Artikel auf infosperber.ch https://www.infosperber.ch/bildung/chat-gpt-revolutioniert-die-kuenstliche-intelligenz/

21. Januar 2023

Zahlen mit Münz und Nötli ist zunehmend verpönt

Filed under: Uncategorized — heinzmoser @ 20:51

Heinz Moser /   Droht dem Bargeld bald das Ende? Sogar der Schweizer Bundesrat findet, niemand sollte verpflichtet sein, Bargeld zu akzeptieren.

«Absolute Frechheit – so etwas habe ich bisher noch nicht erlebt.» Hermann B. wollte noch seinen Kaffee austrinken und dann zu seiner Sitzung gehen. Doch mit Barzahlung war nichts, und seine Karte hatte er Zuhause vergessen. So musste er eine Kollegin bitten, mit ihm zum Café zurückzukommen, – «und das alles für die paar Peanuts, die ein Kaffee kostet», meinte er später verärgert.

Die Erfahrung, dass Bargeld unerwünscht ist, machen Kundinnen und Kunden in der Schweiz immer häufiger. Die Weihnachtsmärkte haben das all jenen verdeutlicht, welche dort in stimmungsvoller Atmosphäre nach passenden Geschenken Ausschau hielten. Doch wer nicht mit Karte zahlen wollte, der musste oft unverrichteter Dinge weiterziehen. Ohne Karte oder Twint läuft heute auf Märkten und in Hofläden fast nichts mehr. Ein Hauptargument für Händlerinnen und Händler: So gibt es keine Kasse mit Bargeld mehr, die Diebe plündern könnten.

Immer häufiger nur noch mit Karte

Bargeldloses Bezahlen ist auch in Medienberichten häufig ein Thema: Laut TagesAnzeiger fällt im letzten Herbst das «Cash-only» der Zürcher Xenix-Bar: Sie wird in Zukunft auch Bezahlkarten und Twint akzeptieren. Einige weitere Beispiele: In der Filiale der Bäckerei Buchmann an der Universitätsstrasse in Zürich gibt es Gipfeli und Sandwiches nur noch mit Karte. «No cash» gilt auch für «Frau Gerolds Garten» und für die Cafékette Vicafé. Fühlte man sich früher unwohl, wenn man ohne einen Batzen Geld aus dem Haus ging, so gibt einem heute eher die Plastikkarte und das Handy Sicherheit. So hat man jederzeit Zugang zu seinem Konto und muss beim Einkaufen nicht lange überlegen, ob man genügend Geld dabei hat. Und sollte man doch einmal Bargeld benötigen, auch dann ist das digitale Zahlen nicht weit weg. Mit der Plastikkarte kann man dann bei Migros oder der SBB Bargeld beziehen.

Während früher schon wegen der Gebühren das Abheben von Geld oder das Bezahlen mit Karte nur bei grösseren Summen üblich war, so begleicht man heute auch Parkgebühren oder Kleineinkäufe am Kiosk mit Plastikgeld. Auch für öffentliche Toiletten braucht es keine abgezählten Münzen mehr, sondern man steckt die Karte ein. Im Luzerner Bahnhof muss man sogar zwingend eine Karte oder das Handy dabeihaben, um die Toilette zu benutzen. Laut SBB ist das bargeldlose Zahlen hygienischer, und die Zutrittssysteme sind weniger störungsanfällig. Bis 2035 sollen zudem alle Billetautomaten aus Bahnhöfen, Bussen und Trams verschwinden.

Der Umbruch hat auch die Banken erfasst: In Deutschland wird die Raiffeisenbank Hochtaunus ihre Filialen schliessen und die Kunden nicht mehr mit Bargeld versorgen.Viele Banken beschränken zudem den kostenlosen Bargeldbezug. Oft gibt es einen Mindestbetrag bzw. eine begrenzte Anzahl kostenloser Bargeldbezüge pro Monat. Es ist abzusehen, dass in naher Zukunft die Bancomaten verschwinden werden und damit auch die spektakulären Sprengungen und Betrugsversuche einer vergangenen Zeit angehören.

Das schweizerische Forschungsprojekt «Swiss Payment Monitor» hat 2022 untersucht, wie man in der Schweiz zahlt: Die Bargeldnutzung liegt noch auf einem recht hohen Niveau. Aber immerhin verzichtet schon eine von sieben befragten Personen (15%) komplett auf Bargeld im Portemonnaie. Mobil wurde am häufigsten mittels QR-Code bezahlt (29,3% der Anzahl Transaktionen) oder via NFC (23,7%). Dann folgen Apps mit integrierter Bezahlfunktion (22,0%).

Vor allem bei den Jungen ist der Trend zum bargeldlosen Zahlen stark. Eine Studie des Online-Vergleichsdienstes Moneyland hat festgestellt, dass junge Erwachsene am liebsten mit EC- oder Kreditkarte sowie per Smartphone zahlen. Nicht zuletzt sind handybasierte Zahlungslösungen bei den 18- bis 49-Jährigen beliebt.

Twint startet durch

Immer beliebter ist in der Schweiz das Zahlsystem «Twint», das die Technologie des QR-Codes für stationäre Zahlungen nutzt, obwohl man lange gegenüber einer schweizerischen Sonderlösung skeptisch war. Das Handy auf einen Bezahlterminal auflegen und «twinten» ist jedoch für viele Schweizerinnen und Schweizer selbstverständlich geworden – ähnlich wie ganz Schweden mit «Swish» bezahlt. Gemäss Erhebungen des  Swiss Payment Monitor ist Twint die mit Abstand meistgenutzte mobile Bezahllösung in der Schweiz: 71,3 Prozent des Umsatzes und 61,4 Prozent der Anzahl Transaktionen mit mobilen Geräten werden mit Twint erledigt.

Diese schöne neue Mobilwelt wird bald in ganz Europa einziehen. Twint plant in Deutschland und Österreich mit der dortigen Bluecode-App zusammenzugehen. Die Bluecode Bezahlstellen kann man in diesen Ländern dann auch mit Twint benutzen. Diese «Interoperabilität» der mobilen Bezahlsysteme soll in ähnlicher Weise auf 16 Länder ausgeweitet werden, die sich in der EMPSA zusammengeschlossen haben, der «European Mobile Payment Systems Association».

Der Bericht des Bundesrats

Auch der Bundesrat hat sich kürzlich über die Zukunft des digitalen Bezahlens geäussert. Sein Fazit: Bargeld verliere tendenziell gegenüber bargeldlosen Zahlungsmitteln an Bedeutung. Dies sei auf die gestiegene Attraktivität von bargeldlosen Zahlungsmitteln hinsichtlich Nutzerfreundlichkeit und Geschwindigkeit zurückzuführen. Die Beliebtheit des kontaktlosen Bezahlens sei auch auf die Corona-Pandemie zurückzuführen.

Zwar betont der Bundesrat, dass Bargeld weiterhin wichtige Funktionen für Wirtschaft und Gesellschaft übernehme und die bargeldlosen Zahlungsmittel nicht vollständig ersetzen könne. Dennoch spricht er sich gegen eine Annahmepflicht von Bargeld aus. Dies wäre für ihn ein zu starker Eingriff in die Wirtschafts- und Vertragsfreiheit. Zugang zu Bargeld und seine Akzeptanz seien in der Schweiz trotz Einschränkungen gut gewährleistet. Auch wenn einzelne Gaststätten oder andere Dienstleistungsfirmen keine Barzahlung akzeptieren, stehen den Kundinnen und Kunden genügend Alternativen zur Verfügung.

Klare Kante fehlt

Wenn an vielen Orten Bargeld nicht mehr angenommen wird, gibt es allerdings auch Verlierer, die immer mehr vom digital geprägten Alltag ausgeschlossen werden: Angehörige der älteren Generation, die digitales Bezahlen nie genutzt haben und ihre Rechnungen am Monatsende bis heute noch mit dem gelben Postbüchlein in der Hand bar bezahlen, werden grosse Mühe haben, auf die neuen Zahlungsmöglichkeiten umzustellen. Auch wenn man Tickets für Bus und Bahn nur noch online lösen kann und die Verkaufsschalter endgültig geschlossen werden, wird das Alltagsleben für all jene erschwert, die keinen PC oder kein Smartphone haben. Formulare und Gebühren, die online auszufüllen und zu bezahlen sind, stellen Hürden dar, die nur mit Hilfe computergewohnter Personen zu überwinden sind.

Gerade Menschen, die kein Einkommen und kein Bankkonto haben, sind auf Bezahlen mit Bargeld nach wie vor angewiesen. Auch der Bundesrat betont in seinem Bericht die «finanzielle Inklusion», nämlich dass Bargeld es Personen ohne Bankkonto oder Zugang zu bargeldlosen Zahlungsmitteln ermöglicht, am Wirtschaftsleben teilzunehmen.

Insgesamt laviert der Bundesrat zwischen einem Plädoyer fürs Bargeld und einer Ablehnung der Pflicht, Bargeld anzunehmen. Es fehlt dem Bericht eine klare Kante: Bargeld soll bleiben, aber eine Pflicht zur Annahme gibt es nicht. Dabei gibt es weit schärfere Argumente, welche Zweifel säen: Elektronisches Bezahlen könnte ein weiterer Schritt zum gläsernen Menschen sein. Wenn massenweise alle Transaktionen von Geld digital festgehalten werden, dann werden die Menschen und ihr Verhalten immer genauer erfasst – nicht nur, was sie kaufen, sondern auch wo und wie. Mit dem Zugriff auf das Kartenkonto könnte ein fürsorglicher Staat direkt eingreifen: Wo die Konten am Monatsende gegen Null tendierten, könnten diese automatisch gesperrt werden.

«Citizens Score» als Mahnung

Ulrich Horstmann und Gerald Mann, die ein Buch über die Abschaffung des Bargelds geschrieben haben, befürchten, dass in Zukunft «der Staat entscheidet, wer als bedürftig gilt und wer nicht.» Über bargeldloses Bezahlen werde der gläserne Zahler möglich, wo es für Wohlverhalten «Credits» gibt. Zur Veranschaulichung ihrer Kritik verweisen sie auf den «Citizen Score» in China (S. 52), wo schon 2018 bei Bürgern mit niedrigem Sozialpunktestand Zug- oder Flugreisen verweigert wurden.

Gemäss der Bertelsmann Stiftung dient der chinesische Citizen Score der Überwachung, Bewertung und Regulierung des finanziellen, sozialen, moralischen und möglicherweise politischen Verhaltens der Bürger Chinas – und auch der Unternehmen des Landes – über ein System von Bestrafungen und Belohnungen. Das Ziel sei es, «den Vertrauenswürdigen Vorteile zu verschaffen und die Unzuverlässigen zu disziplinieren.» Dazu wird mit «Big Data» vom Staat und von privaten Plattformen wie Alibaba auf breiter Front Daten gesammelt – bis hin zum Einsatz von Überwachungskameras. George Orwells Roman «1984» lässt grüssen.

Die Euphorie ist weg

Mit dem Klimawandel und dem Krieg in der Ukraine ist die Euphorie über das Verschwinden des Bargelds zusätzlich geschrumpft. Die neuen Systeme des Bezahlens sind von ihrer digitalen Vernetzung – und damit vom Strom und funktionierenden Netzen – abhängig. Ein Crash in der Stromversorgung oder auch Cyberattacken können unabsehbare Folgen haben. Einen Vorgeschmack solcher Folgen gab es in der Schweiz im vergangenen Herbst zu spüren, als bei Coop die Kartenterminals wegen einer technischen Störung schweizweit nicht mehr funktionierten. Viele Kunden liessen ihre Ware einfach bei den Selbstbedienungskassen liegen, als alles stillstand. Wenn aber wie beim Ukraine-Krieg die Elektrizität flächendeckend ausfällt, bleiben Türen und Kassen für alle verschlossen – und man kann höchstens noch mit dem verpönten Bargeld das Lebensnotwendigste kaufen.

Solche Erfahrungen sorgen für vermehrte Vorsicht gegenüber einer vorschnellen Abschaffung des Bargelds. Sogar Schweden, wo ein bargeldloses Zeitalter bereits in der näheren Zukunft erwartet wurde, beginnt zurückzurudern. So schlägt Stefan Ingves, Chef der schwedischen Zentralbank, in der Zeitschrift «Focus» Alarm: «Falls das Licht einmal ausgeht, brauchen wir in diesem Land genügend Bargeld, auch weit draussen in irgendeinem Wald, damit wir auf Scheine und Münzen zurückgreifen können». Er fordert, die Banken per Gesetz zu verpflichten, für den Notfall eine bestimmte Bargeldmenge vorrätig zu halten.

Das führt zum Paradox: Gerade jetzt, wo die Skepsis wieder grösser wird, kommt das bargeldlose Zahlen im Alltag bei uns richtig in Schwung. Dabei wäre es klüger, die Annahmepflicht für Bargeld nicht einfach auszusetzen. Denn damit bliebe zumindest ein Notvorrat an Barem überall bestehen.

Beitrag in infosperber vom 21.1.2023

10. Dezember 2022

Advertoriale und Informationen

Filed under: Medienkritik,Uncategorized — heinzmoser @ 10:59
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Der untenstehende Artikel auf „infosperber“ zeigt, wie schwierig es ist Informationen „richtig“ zu bewerten. Auch in Qualitäszeitungen versteckt sich Werbung mitten im redaktionellen Teil.

«Advertoriale» und die NZZ am Sonntag – infosperber

„Dem Kybun-Schuh wird also auf dieser Seite nicht nur in der Schlussanzeige ein Denkmal gesetzt. Schon das Interview mit dem Schuhpionier ist auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt als die kommentierenden Äusserungen des Wirtschaftsprofessors zur Energiepolitik. Denn ganz klein steht neben der Titelzeile «Advertorial». Die Leistungen des Schuhpioniers, soll das wohl heissen, werden im Sinne eines Advertorials beschrieben, was uns Leserinnen und Lesern kaum auffällt.

Google sei Dank kann man sich im Netz auch gleich informieren, was ein solches Advertorial ist: Es kombiniert die Begriffe «Advertisement» (Anzeige) und «Editorial» (Leitartikel) – und das heisst nichts anderes, als dass Werbeanzeigen in der Form eines redaktionellen Beitrags erscheinen (Ausschnitt).

2. Mai 2021

Die Schule in der Corona Krise

Filed under: Uncategorized — heinzmoser @ 09:20
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Mit dem Ende von Schulschliessungen ist die Bildungskrise noch nicht vorbei. Es wird ein Brückenjahr nötig werden, um Bildungsrückstände aufzuholen und Kinder und Jugendliche gezielt zu fördern. Es wird aber zu spät sein, wenn die Planungen dazu erst im Sommer erfolgen. Noch einen vertanen Sommer können wir uns gesellschaftlich nicht leisten.

Zur Situation gibt mein neuer Beitrag auf „Infosperber“ einen Einblick:

12. Februar 2021

Teslas Gigafactory

Filed under: Uncategorized — heinzmoser @ 10:46

Wer von Digitalisierung und technologischem Wandel spricht, kommt um das Beispiel der Tesla Gigafactory in Brandenburg und Berlin nicht herum. Auch wer im Bildungsbereich die Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Wandel diskutieren will, erhält damit ein spannendes Beispiel. Denn Tesla steht nicht nur für E-mobilität, sondern auch für „autonomes Fahren“. Tesla ist nicht allein Autobauer sondern ein breit aufgestellter Technologiekonzern.

Das autonome Fahren kann ein Lehrstück zum Thema der Digitalisierung unseres Alltags und den darauf bezogenen gesellschaftlichen Wandel sein.

Dies spricht mein folgender Beitrag auf „Infosperber“ an:

8. Februar 2021

Die Corona-Narrative zum Schulunterricht

Gerd Altmann, Pixabay

Seit sich das mutierende Virus verbreitet, geht eine fast panische Angst vor einer erneuten Schliessung der Schulen um. An vielen Orten wurden in den letzten Tagen Schüler und ganze Schulhäuser in Quarantäne geschickt. In Deutschland haben vielerorts die Schulen nach Weihnachten noch gar nicht aufgemacht, und in der Schweiz stellen lokale Corona-Ausbrüche die Frage in den Raum, wie lange es mit offenen Schulen noch gut geht. Durchhalteappelle vermischen sich in der Presse mit Berichten zu immer neuen Ausbrüchen in Schulhäusern.

Das dominierende Narrativ zu Präsenz- vs. Fernunterricht

Im Hintergrund dieser Besorgnis steht das Narrativ des Präsenzunterricht, der ein Leben zurückbringen soll, wie es für Kinder und Jugendliche vor den Pandemiezeiten war. Dieses vorherrschende Narrativ wiederholt das Mantra hundertfach, dass die Schulen und damit der Präsenzunterricht unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Fernunterricht könne schon deshalb keine Alternative sein, weil damit die Eltern zu ungefragten Lehrpersonen werden – und zudem die Qualität des Fernunterrichts den Ansprüchen an Bildung nicht genügt. Befürchtet wird, dass eine «lost generation» heranwächst, die als Langzeitfolge nur ungenügenden Bildungschancen erhalten haben, was als Folge der Corona-Krise ihre Berufs- und Lebenschancen in gravierender Weise reduziert.

Schüler und Schülerinnen die
o tagsüber am Computer zocken,
o Aufgaben allein und isoliert bearbeiten müssen, auch wenn sie diese nicht richtig verstehen,
o Hilfe von ihren Eltern bei Lernstoff beanspruchen, den diese selbst nicht richtig beherrschen.

Das sind nur einige der Befürchtungen, die häufig geäussert werden. Zielgrösse des Unterrichts ist nach diesem Narrativ allein der Präsenzunterricht, Fernunterricht kann höchstens eine vorläufige Nothilfe sein, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und das Infektionsgeschehen solche drastischen Schritte verlangt.

Das Narrativ vom netzwerkbasierten Unterricht

Allerdings sollte man Fernunterricht und Homeschooling zu Zeiten der Schulschliessungen nicht ausschliesslich schlecht reden. Es gibt nicht nur enttäuschende Ergebnisse. Engagierte Lehrerinnen und Lehrer haben auch spannende Lernaufgaben und -projekte ausgearbeitet. Für manche Schülerinnen und Schüler war das selbständige Lernen ausserhalb der Schule positiv gegenüber der «normalen» Schulroutine.

Das Lernen unter Bedingungen der Pandemie nimmt zudem vorweg, wie wir alle in Zukunft unseren Alltag gestalten werden – nämlich unter viel stärkerem Bezug auf die virtuellen Möglichkeiten des Handeln und Lernens. Soziale Kompetenzen werden nicht nur in der Alltagspräsenz wichtig sein, sondern auch im Umgang und Einbezug von virtuellen Anforderungen an unsere Lebenswelt. Wir leben zunehmend in einer Mixed Reality, die «Online» und «Offline» miteinander verbindet.

In diesem Sinne ist der Unterricht im Homeschooling nicht nur eine Notfallmassnahme, sondern ein eine Investition in ein künftiges Lernen, das in Zukunft vermehrt im Unterricht zum Tragen kommen muss. Wie es die untenstehende Grafik von Microsoft zeigt, leben wir in einer Welt, die das ganze Spektrum zwischen der physischen- und digitalen Welt abbildet.

Abb. 1: Das Spektrum der «gemischten Realität» (https://news.microsoft.com/de-de/microsoft-erklaert-was-ist-mixed-reality-definition-funktionen)

Die «gemischte» Realität ist nicht nur eine Frage der technischen Einbindung digitaler Elemente in die alltägliche Wahrnehmung – indem die direkte visuelle Wahrnehmung durch künstliche Elemente «angereichert» wird. Der Begriff einer «Mixed Reality» geht auf das Projekt von Microsoft Hololens zurück, wo hochauflösende 3D-Hologramme im Sichtfeld der Nutzer/innen eingeblendet werden. Darüber hinaus gehend bedeutet «Mixed Reality»:  Wir sind in unserem Alltag generell in Netze einbezogen, mit denen wir gleichzeitig real und virtuell verbunden sind.

Mixed Reality
Der Begriff der «Mixed» Reality entstand im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die virtuelle Ebene einer künstlichen Realität. Die künstlichen Welten des Cyberspace mit den Versuchen, virtuelle Welten im Rahmen eines «Second Life» zu kreieren, gehören hier ebenfalls dazu wie das Konzept einer «Augmented Reality», wo virtuelle Elemente das reale Sichtfeld überlagern. Die Firma Intel erklärt dies auf ihrer Website: «AR überlagert digitale Informationen mit realen Elementen. Pokémon GO gehört zu den bekanntesten Beispielen». Und weiter heisst es im Intel-Text:
Auch der Begriff der Mixed Reality (MR) gehört in diesen technischen Kontext: «MR lässt die reale Welt und digitale Elemente miteinander verschmelzen. In der so ‘vermischten Realität’ interagieren Sie sowohl mit physischen als auch virtuellen Gegenständen und Umgebungen und manipulieren diese mithilfe von Sensor- und Bildverarbeitungstechnik der neuesten Generation. Bei der Mixed Reality nehmen Sie die Welt um sich herum mit allen Sinnen wahr, auch wenn Sie mit Ihren Händen mit einer virtuellen Umgebung interagieren; und dazu müssen Sie Ihr Headset nie abnehmen».
https://www.intel.com/content/www/us/en/tech-tips-and-tricks/virtual-reality-vs-augmented-reality.html

Der Begriff der Mixed Reality kann aber auch aus seinem technischen Kontext gelöst werden und zur Bezeichnung einer «gemischten Realität» verwandt werden, wo sich im Alltag generell Elemente der künstlichen und der realen Welt mischen. Beispiele dazu sind:

– Meine Bankgeschäfte erledige ich virtuell mit dem E-Banking. Die Auswirkungen meiner Transaktionen widerspiegeln sich direkt in meinem physischen Alltag, wo mir die Online verwalteten Geldmittel zur Verfügung stehen.

– Elektroautos lassen in Zukunft ein auf Algorithmen basierendes «autonomes Fahren» zu. Damit ergeben sich im gemischten Kontext eine Vielzahl neuer Fragen – etwa wer bei einem (physischen) Unfall letztlich die Schuld trägt.

– Nachrichten, welche in einem virtuellen Medium abgesetzt werden, haben direkte Auswirkungen in der Realität, wie ich als Schreibende/ Schreibender wahrgenommen werde.

Das Narrativ eines netzwerkbasierten Lernens

Auf diesem Hintergrund geht es nicht mehr darum, die Realität einer ausschliesslichen Alltagspräsenz zu retten. Vielmehr sind Schule, Unterricht und Lernen in eine «Mixed Reality» einbezogen, die je nach Lernzielen und Lernformen mehr die Möglichkeiten des Lernens in der Präsenz oder virtuelle Projekte und Online-Formen des Lernens in den Vordergrund rückt. Es ist ein Narrativ des netzwerkbasierten Lernens, das sowohl das reale Kommunikationsnetzwerk der Schülerinnen und Schüler im schulischen Unterricht wie das Online-Lernen in ausserschulischen Kontexten umfasst.

Das bedeutet für die Schulen, in diesen beiden Netzwerken eine Flexibilisierung der Lernkontexte zu befördern und vermehrt auf die Durchlässigkeit zu ausserschulischen Lernwelten zu setzen. Je nach Bildungszielen und gesellschaftlichen Bedingungen kann vermehrt auf «Online» oder «Offline» gesetzt werden – je nach den Erfordernissen einer optimalen Förderung. Bei jedem Lernschritt, den Lehrerinnen und Lehrer planen, wird es in Zukunft wichtig sein zu überlegen, wie On- und Offline Lernen zu verbinden sind.

Für das Lernen in der Pandemie heisst das, weniger einem vergangenen Präsenzunterricht nachzutrauern, als experimentell und kreativ Lernformen zu finden, die Bildung auch unter den schwierigen Bedingungen der gegenwärtigen Infektionslage ermöglichen. Wenn Schüler/innen in Quarantäne gehen, muss man Online-Lernen verstärken und ein Coaching einrichten, das die Schülerinnen und Schüler ausserschulisch unterstützt. Anstatt dem Präsenzunterricht nachzutrauern, wird es im netzwerkbasierten Lernen darum gehen müssen, aufgrund der Pandemiesituation eine sinnvolle Balance zwischen On- und Offline zu finden.

Netzwerkbasiertes Lernen

Abb. 2: Modellierung des netzwerkbasierten Lernens

Lernen kann in Offline- oder Online- Netzwerken modelliert werden. Die Lernschritte werden flexibel auf die jeweiligen Lernkontexte angepasst (im obigen Beispiel: Lernschritte 1 und 3 offline, Lernschritt 2 online).

Dieses Plädoyer für ein netzwerkbasiertes Lernen soll zweierlei ermöglichen:

1. Es soll das Schulsystem davon entlasten, alle Bemühungen allein auf die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts zu richten – ein Handlungsmuster, das schnell zu einer vergeblichen Sisyphusarbeit umgedeutet werden kann.

2. Es soll deutlich werden, dass die Entwicklung einer gemischten On- und Offline- Struktur für das Schulwesen auch als Investition in eine Schule zu verstehen ist, wie sie sich nach der Pandemie im Zusammenhang mit einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft entwickeln wird. Denn die Schule bereitet in Zukunft nicht nur verstärkt auf ein Leben in Mixed Realitys vorher; sie muss dieses Modell auch in ihre Unterrichtsformen aufnehmen.

Heinz Moser, 8.2.2021

13. Januar 2021

Bald könnten die Schulen wieder schliessen

Filed under: Corona,Coronakrise,Internet,Medienbildung,Schule — heinzmoser @ 22:17
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Die Diskussion über Schulschliessungen hat die Schweiz über das Wochenende 10./11. Januar 2021 wieder mit aller Schärfe erreicht. Besorgnis erwecken vor allem die mutierten Varianten des Virus, die in Grossbritannien und anderen Ländern für eine explosive Verbreitung des Virus sorgen.

Die Schweiz selbst hat sich mit ihrer irritierenden Politik in den Skigebieten einen Vorgeschmack verschafft, was in den nächsten Wochen drohen könnte: Erst ging alles darum, den Ski-Tourismus aufrechterhalten. Denn man wollte auf Gäste -«aus der Schweiz», wie es hiess – nicht verzichten und liess im Dezember auch Gäste aus Grossbritannien augenzwinkernd passieren. Und nun hat man begründete Angst, dass damit auch die ansteckendere Variante des Virus aus Grossbritannien verbreitet wurde.

Damit verbreitete sich die Panik vor dem mutierten Virus in Windeseile. Schon wurde als Konsequenz für die nächsten Wochen wieder ein harter Lockdown ausgerufen. Was dies für die Schulen bedeutet, dokumentiert ein Blick in die Presse des letzten Wochenendes :

Die Sonntagszeitung des TagesAnzeigers rekapituliert nochmals, dass Schulschliessungen im Moment politisch in der Schweiz nicht als sinnvoll gesehen wurden: Bundesrat Alain Berset habe vor den Medien klargestellt, dass es in der Schweiz zumindest vorderhand keinen national orchestrierten Shutdown der Schulen geben werde. Die Formulierung mit «Wenn» und «Aber» und «vorderhand» wird noch dadurch verstärkt, dass eine neue Studie der ETH-Zürich die Rolle der Schule bei der Pandemie wieder stärker betont. Laut einer Mobilitätsanalyse von Handydaten ist hier als Ergebnis festgehalten worden: «Laut der Studie senkten die Schulschliessungen von Mitte März die Mobilität um 21,6 Prozent. Nur zwei Massnahmen haben demnach die Bewegungen noch stärker eingeschränkt. Nämlich das Versammlungsverbot für mehr als fünf Personen (minus 24,9 Prozent) sowie die Schliessung von Restaurants, Bars und Geschäften (minus22,3 Prozent).»

https://www.tagesanzeiger.ch/so-effektiv-sind-schulschliessungen-263641399795

Dabei ging man bisher von der These aus, dass Schulen – und insbesonders die Volksschulen – kein Treiber der Pandemie seien. Auf dem Zürichberg hatte die Universität Zürich – also die Konkurrenz der ETH – eben noch in einer eigenen Studie namens «Ciao Corona» Entwarung  gegeben.  In einer Medienmitteilung der Universität Zürich hiess es am 2.12.2020:

«Die Universität Zürich hat zum zweiten Mal bei 2’500 Zürcher Schulkindern getestet, ob sie sich mit dem neuen Coronavirus infiziert haben. Die Untersuchung mit Antikörpernachweis zeigt: Knapp 8 Prozent aller Kinder hatten bis Mitte Oktober eine Corona-Infektion durchgemacht. Keine ganzen Schulen und nur sehr wenige Klassen zeigten eine Häufung von Corona-Infektionen. Zudem konnte in einer Substudie von Anfang Dezember das Virus mittels Akuttests (Abstrich) bei nur einem von 641 Kindern nachgewiesen werden.»

https://www.media.uzh.ch/de/medienmitteilungen/2020/CiaoCorona.html

Als Erziehungswissenschaftler kann man da nur resigniert den Kopf schütteln. Es fällt allerdings auf, dass die wissenschaftlichen Methoden, die für oder die Schliessung argumentieren, sehr unterschiedlich angelegt sind. Fakt ist aber, dass die Frage der Schliessung von Schulen wieder stärker in den Vordergrund rückt. Nach der ersten Welle hoffte man, dass der Spuk bald vorübergehe und man die Schulen im neuen Schuljahr geöffnet lassen könne.

Massnahmen im Schulbereich

In der aktuellen Diskussion stellt sich wieder die Frage, wie man im Schulbereich angesichts steigender Infektionszahlen vorgehen könnte.

Unter dem Titel «Schulen bereiten sich auf dritte Welle vor» wird im «Blick» ein ganzes Massnahmenpaket vorgeschlagen, Dazu gehören:

  • Die Schutzkonzepte sollen verstärkt werden. Maskenpflicht könnte auch auf die oberen Primarschulklassen ausgeweitet werden.
  • Halbklassenunterricht oder gestaffelter Unterricht könnte als Option vorgesehen werden.
  • Quarantäne Regel und mehr Testen müssten konsequenter durchgeführt werden

https://www.blick.ch/politik/nur-im-notfall-fernunterricht-schulen-bereiten-sich-auf-dritte-welle-vor-id16283767.html?fbclid=IwAR2Jq8yIJLrdr13aM-PU2%E2%80%A6

Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner hatte sich davor in einem Interview mit dem TagesAnzeiger ganz ähnlich geäussert: Für sie ist der Fernunterricht nur der letzte Ausweg und Bestandteil eines kompletten Lockdowns. Zu den Alternativen dazu betont sie:

«Man darf nicht vergessen, wir haben schon heute gute Schutzkonzepte: Es gilt ausgedehnte Maskenpflicht, Einschränkungen im Sportunterricht, Hygieneauflagen und Unterricht auf Distanz. Die Bildungsdirektion hat darum für die Schulen ein spezialisiertes zusätzliches Contact-Tracing aufgebaut. Dieses ergänzt das kantonale Contact-Tracing, um vertieft die schulische Situation zu klären und die Schulen zu beraten. So kann man auf lokale Ausbrüche möglichst rasch reagieren. Derzeit ist die Infektionszahl bei den unter 18-Jährigen relativ tief.»

https://www.tagesanzeiger.ch/dann-gehen-sie-plakativ-gesagt-einfach-ins-shoppingcenter-350722207612

Alle diese vorgeschlagenen Massnahmen sind noch dieselben wie im Frühling dieses Jahres. Ausser dem Präsenzunterricht scheint es keine Alternativen zu geben – weil auch der Fernunterricht nicht unbedingt ein erfolgreiches Unterrichtskonzept darstellt. Eine gewisse Phantasielosigkeit angesichts der verstärkt grassierenden Pandemie scheint vorherrschend zu sei.

Digitales Lernen als Alternative zum Präsenzunterricht

Selbstverständlich muss der Weg letztlich zum Präsenzunterricht zurückführen. Und dies ist möglich, sobald die Pandemie – durch die anstehenden Impfungen – im Sommer dieses Jahres überwunden sein wird. Doch gerade das netzbasierte Lernen (nicht ein altbackener Fernunterricht) gibt Möglichkeiten einer sinnvollen Überbrückung.

Einzelne aktive und kreative Lehrpersonen haben in den letzten Monaten bereits angedeutet, was hier möglich wäre. So berichtet die Neue Zürcher Zeitung aus der Primarschule Zumikon und zitiert deren Schulleiter Philipp Apafi:

«Er sieht möglichen erneuten Schliessungen grundsätzlich gelassen entgegen. Seine Schule sei vorbereitet. Man habe zwei Konzepte in der Schublade: eines für Fernunterricht, eines für Unterricht mit halben Klassen, wie er im Lockdown einige Zeit durchgeführt wurde. In den letzten Monaten habe die Schule ausprobiert, was mit digitalen Mitteln möglich sei: Kinder in Quarantäne nahmen online am Unterricht teil. Auch Lehrer hätten bereits auf diese Weise Unterrichtsstunden aus der Quarantäne gehalten: Während ihre Schüler im Klassenzimmer sassen, wurden die Lehrer per Laptop zugeschaltet und waren so im Klassenzimmer «präsent». «Das hat erstaunlich gut geklappt», sagt Apafi. Das Kollegium bespreche sich inzwischen viel häufiger online und lade externe Fachleute digital ein.»

https://www.nzz.ch/zuerich/corona-in-zuerich-die-schulen-sind-fuer-schliessungen-vorbereitet-ld.1594819

Was netzbasierter Unterricht ermöglichen könnte

Verheissungsvoll als flankierendes Massnahmenbündel der Schulen erscheint weniger der traditionelle «Fernunterricht», sondern die konsequente Nutzung eines netzbasierten Unterrichts, der die «realen» Kontakte in den Schulhäusern reduziert und dennoch herausfordernde Lernanlässe für die Schülerinnen und Schüler schafft. Wie im Zeitungsbericht angedeutet: Quarantänen von Schülerinnen und Schülern können durch Online-Lernen ergänzt werden, Lehrpersonen durch Zuschaltung per Laptop zu neuen Kontaktformen geführt werden. Dabei ist essentiell, dass solche Lernformen nicht auf Betreuung und Coaching durch reale Lehrkräfte (zum Beispiel durch pensionierte Lehrpersonen und solche aus Risikogruppen, durch Studierende etc.) verzichten.

Didaktische Formen wie Wochenpläne und projektbasiertes Lernen können das selbständige Lernen der Schülerinnen und Schüler in schulische Strukturen einbinden, die auch das Kontaktmanagement unter Quarantänebedingungen einbeziehen. Zudem wären ständige Lerngruppen von zwei  bis drei Schülerinnen und Schülern zu bilden, was verhindert, dass immer wieder neue Gruppen mit unbekanntem Ansteckungsrisiko entstehen.

Meines Erachtens wäre es wichtig, auf der didaktischen und unterrichtlichen Ebene Massnahmen zu entwickeln, um so über reine Hygieneregeln und hygienische Schutzmassnahmen hinauszukommen. Ziel wäre es, mit geeigneten didaktischen Massnahmen den Bildungsprozess der Schülerinnen und Schülern auch in einer Situation zu unterstützen, wo an eine umfassende normale Präsenz im Klassenzimmer nicht gedacht werden kann.

Vor allem müsste versucht werden, ein Minimum von Jahrgangszielen auch unter solche erschwerenden Bedingungen zu erreichen – dies über einen geschickten Mix von «Online-» und «Offline»-Lernen, der auch soziale Kompetenzen in beiden dieser Bereiche vermittelt. Dabei geht es nicht allein um Lernen und Verhalten in der Präsenz, sondern auch in den digitalen Räumen, welche das zukünftige Leben der heranwachsenden Generationen ohnehin viel massgeblicher prägen werden als dasjenige ihrer Eltern.

Heinz Moser

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